Der schmale Grad

Mit mulmigem Gefühl betrat Oliver das Polizeirevier. Seit knapp einem Jahr hatte er sich auf heute vorbereitet. Das letzte Meeting stand an. Seine Kollegen warteten bereits auf ihm.

 

„Guten Morgen, Herr Wenzler.“, begrüßte ihn der Polizeichef. Das allein beunruhigte Oliver noch mehr. Hinter ihm tauchte Markus auf, der Leiter der Abteilung Bandenkriminalität und Olivers direkter Vorgesetzter. „Hey, Oli. Alles klar?“ Er nickte. Dann setzten sich alle.

 

„Dein Name ist Sven Bortner. Du stammst aus Bremen, bist geschieden, keine Kinder. Deiner Ex-Frau hat ein Kontaktverbot gegen dich erwirkt.“, erklärte Markus nochmal die Figur intus. Der Abteilungsleiter legte ihm ein paar Bilder vor. „Benenn sie.“ „Matthias, der Präsident. Finn, der Vize. Dust, der Road Captain und Finns Halbbruder.“ Das war die leichteste Übung für Oliver. Anerkennend lobte ihn sein Chef. „Hier ist dein neuer Ausweis, die Wohnungsschlüssel und die fürs Motorrad.“ Oliver nahm die Sachen an sich. Von jetzt an war er Sven Bortner, der Versager und nicht mehr Oliver Wenzler, der Kommissar der Abteilung Bandenkriminalität. Warum hatte er sich nur auf diesen Mist eingelassen. Ach ja richtig. Er war der Neue hier!

 

Seine neue Wohnung war nicht so schäbig wie er befürchtet hatte. Zwei Zimmer. Nicht zu groß, nicht zu klein. Seufzend plumpste er auf sein Schlafsofa. Das würde was werden. Die ersten zwei Wochen bleib er für sich. Er sollte sich an sein Schauspiel gewöhnen.

 

Erst nach weiteren drei Wochen tauchte sein Kontaktmann auf. Er sollte ihn in den MC bringen. Am gleichen Abend wurde er zum Clubhaus gebracht. „Hey Matt!“, begrüßte der Kontaktmann den Präsidenten per Handschlag. „Tom. Lange nicht gesehen. Wenn schleppst du da an?“ Oliver wurde mit der Hand am Rücken nach vorne geschoben. „Das ist Sven. Er ist neu in der Stadt und will hier neu durchstarten, wenn du verstehst.“ Der Präsident nickte mit verschränkten Armen. Die knapp bekleidete junge Frau warf mir einen mehrdeutigen Blick zu. „Hol doch bitte mal Dust, Süße.“ Sie lächelte und machte sich auf die Suche. Matt bot Sven einen Platz an der Bar an. Er starrte ihn minutenlang an. Ohne etwas zu sagen oder die Miene zu verziehen. Dann stand das Mädchen wieder neben ihn. Dann fiel sein Blick zur Treppe. Und da stand er. Braune, schulterlange Haare und olivfarbige Pupillen. Der kleine Bruder des Vize. „Dustin wird dich rumführen.“ Oliver nickte und folgte dem Road Captain.

 

***

 

Heilige Scheiße. Das war Dustins erster Gedanke. Der neue Blonde, den der Supporter da angeschleppt hatte, war ja mal eine Augenweide. Als Matt anordnete ihn rumzuführen, musste er sein Platzhirsch und Flirtgehabe tief in sich verschließen. Diese sinnlichen dunkelblauen Augen machten es nicht einfacher. Wie gern er durch das zu Stacheln gegellte Haare fahren würde. Seufzend riss er seinen Blick los und führte den Neuen herum. Er stellte ihn den wichtigsten Leuten vor, eben jenen, die bestimmten, ob er aufgenommen wurde. Am Ende der Tour kamen sie wieder an der Bar an. „Trinkst du?“ Oliver schüttelte den Kopf. „Nicht mal ein Bier?“ Dust setzte seine Mitleidsgrimasse auf. Ein leichtes Grinsen bildete sich auf Svens Gesicht. „Nur eins.“ Im nächsten Moment stellte der Barkeeper zwei Flaschen auf den Tresen. „Was machst du? Was bringt dich in unser kleines Städtchen?“ Sein neuer Kumpel begann zu erzählen. Er hatte vor kurzem eine Scheidung hinter sich gebracht. Seine Ex hatte ihn verlassen, weil er ein paar Mal im Suff die Hand ausgerutscht war. Nun stand zusätzlich ein Kontaktverbot zwischen ihnen. Immerhin. Eine plausible Erklärung warum er keinen Alkohol trinken wollte. Trotzdem glaubte Dustin Sven nicht. Irgendwas war komisch an ihm. Vielleicht sollte er sich später Tom ordentlich zur Brust nehmen.

 

Als Sven sich kurz auf die Toiletten entschuldigte, hielt Dust Ausschau nach dem Supporter. Er wusste, dass Tom bei vielen MC hin und wieder aushalf und manchmal sogar bestimmte Personen vor anderen Organisationen versteckte. Bis jetzt war jedoch keiner so seltsam wie dieser Sven. Dustin wollte mehr über ihn wissen bevor die Familie noch wegen dem Neuen in Gefahr geriet.

 

Bei den Tänzerinnen wurde er fündig. Tom ließ sich von einer Halbnackten bezirzen. Dustin überwand flink die paar Meter und zog Tom ohne großes Aufsehen in eine dunkle Ecke. „Wer ist er und vor wem versteckst du ihn? Worin willst du uns wieder reinziehen?!“ Der Rothaarige schwieg. „Ich verstehe deine Frage nicht. Er ist ein normaler Kerl, der sich für Motorräder interessierte.“ Das überzeugte Dustin ja mal überhaupt nicht. „Und da schleppst du ihn ausgerechnet zu uns?“ Tom schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm vorgeschlagen, ihm ein paar MCs zu zeigen. Irgendwo musste ich wohl anfangen. Und da ihr immer so sexy Ladies hier habt, dachte ich, dass es das Beste ist für einen Kerl mit gebrochenem Herzen.“ Belustigt hob Dustin die Augenbrauen. „Gebrochenem Herzen?“, wiederholte er. Der Rothaarige nickte. „Seine Alte hat sich scheiden lassen, weil er sie zu fest angepackt hat.“ Pech für Dustin. Die Geschichten deckten sich. „Wenn du mich entschuldigst. Die Damenwelt ruft mich.“

 

***

 

Als Oliver die Tür aufschob, blieb ihm für Sekunden die Luft weg. Dustin diskutierte wild gestikulierend mit Tom. Hoffentlich erzählte er keinen allzu großen Mist.

 

Nach außen hin ruhig setzte sich Oliver zurück an den Tresen. Plötzlich legten sich zwei Hände vor seinen Augen. „Na, Sven. Schön aufpassen, dass dir niemand auf den Hintern starrt?“, wurde ihm ins Ohr geflüstert. Dann verschwanden die Hände. Dustin hockte mit einem breiten Grinsen neben ihm. „War nur Spaß!“, lachte der Braunhaarige. Da war sich Oliver nicht so sicher. Grinste aber. Der Höflichkeit zu Ehren.

 

Etwas später am Abend stellte Dustin ihm ein paar der hübsche Ladies vor. Oliver schmeichelte der einen oder anderen oberflächlich. Schließlich hatte er auf keinen Fall vor hier Freundschaften zu schließen.

 

Doch das Schicksal machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Dustin brauchte nur drei Tage um herauszufinden, wo Sven Bortner wohnte und arbeitete. Ende der Woche holte ihn der Biker mit dem Stierkopf auf dem Rücken von der Arbeit ab. Dustin bestaunte sein Bike. „Wie hat die Arme eure Scheidung bloß überlebt?“ „Sie hat das Haus, ich meine Harley.“ Dustin nickte anerkennend. „Wollen wir los?“ Statt wie befürchtet zum Clubhaus, führte die Route vor das Wohnhaus. „Tom hat erzählt, du kochst gut.“ Sollte das nun eine Rechtfertigung sein? „Nur, weil er nicht beim ersten Bissen gestorben ist, heißt das nicht, dass ich kochen kann.“, gab Oli verbissen von sich. „Kochst du mir trotzdem was? Ich will nicht schon wieder Tiefkühlpizza.“ Oliver sperrte die Tür auf und ließ seinen ungeplanten Gast eintreten, der hinter sich sofort die Tür ins Schloss drückte. Das kam Oliver ein wenig verdächtig vor. Noch auffälliger wäre es sich jetzt umzudrehen. Also ging er zur Küchenzeile und guckte in den Kühlschrank. Erst gestern hatte er sich mühevoll eine Lasagne zubereitet. Das Einzige, was er einem Gast anbieten konnte. Aber eigentlich wollte er sie nicht teilen. „Ich muss wohl einkaufen gehen.“, murmelte er halblaut. Plötzlich landete eine Einkaufstasche auf der Arbeitsfläche. „Das habe ich für dich gemacht.“ Oliver fand Salami, Hefe, Tomatensoße mit Grün und Pizzamehl. „Sagtest du nicht, keine Pizza?“ Sein Gast zuckte mit den Schultern. „Das einzige Rezept, dass ich kenne.“ Seufzend schüttete er den Kopf. „Wir gehen einkaufen. Jetzt!“

 

Im Supermarkt lag Dust auf dem Bügel des Einkaufswagens während Oliver ein Produkt nach dem anderen in den Wagen legte. „Was kochen wir?“ Lächelnd legte Oliver Butter in den Einkaufswagen. „Lass dich überraschen.“

 

Zurück in der Wohnung zauberte Oliver zwei Schnitzel mit Pommes und einen kleinen Salat. „Zufrieden?“

 

***

 

Dustin schnupperte an seinem Teller. Wasser lief in seinem Mund zusammen. Eilig nickte er. Endlich setzte sich Sven. Dustin verschlang das Essen fast samt Teller. So lecker hatte er lange nicht mehr gegessen. Die kleine Lüge über Tom hatte seinen Dienst getan.

 

„Kommst du später mit ins Clubhaus?“ Sven zuckte mit den Schultern. „Wenn ich dort willkommen bin, gerne.“ Dust war zufrieden. So konnte er Sven im Auge behalten ohne groß aufzuhalten.

 

Dort angekommen parkte er Sven erst mal bei den Ladies. Er selbst musste seinem Bruder erst einmal den Plan für die nächste Ausfahrt vorlegen. Auch wenn er den Rang vom Road Captain innehatte, wollte Finn immer die Pläne vorhersehen.

 

„Wieso steht Sven auf der Liste?“ „Ich finde ihn nette. Da dachte ich…“ Sein Halbbruder schüttelte den Kopf und strich Svens Namen in rot durch. „Wieso gibst du ihm keine Chance?“ Ein böser Blick traf ihn. „Er ist keiner von uns und er wird es auch nicht!“ „Muss ich jetzt zu Matt gehen?“ Mit verschränkten Armen standen sich die Brüder gegenüber. Blitzte schossen aus ihren Augen.

 

„Wann benehmt ihr euch endlich nicht mehr wie kleine Kinder?“ Die Brüder drehten gleichzeitig den Kopf zur Tür. Dort lehnte Matt. Neben ihm stand Sven. Verdammt! Hatte er es etwa mitbekommen?

 

„Sven wird am Sonntag mitkommen.“, bestimmte der Präsident, „Und damit basta!

 

Flink nahm Dustin seinem Bruder den Stift ab und kringelte Svens Name ein. „Danke Matt.“ Der Road Captain packte seinen Plan wieder ein. An der Tür zog er Sven mit sich.

 

„Du musst mächtig Eindruck hinterlassen haben.“ Sven zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts gemacht.“ Dustin grinste nur. „Vielleicht mag er dich einfach.“ Er lud den Blonden au feinen Drink ein.

 

Kurz nach dreiundzwanzig Uhr begleitete Dustin Sven zu seiner Wohnung. Ein paar Stufen vor der Tür kam dem Braunhaarigen eine Idee. „Zu mir ist es noch verdammt weit.“, begann Dustin, „Kann ich vielleicht hier pennen?“